Die Gedanken sind frei

Text zum Thema Alzheimer, 2004

Die Gedanken sind frei und fliegen vorbei wie nächtliche Schatten. Was, wenn der Tag kommt, an dem die Gedanken tatsächlich nicht mehr sind als nächtliche Schatten? Wenn das Licht, das diese Schatten wirft, beginnt zu flackern, schwächer wird, erlischt. Wenn ich vor meinen Kindern stehe und ihre Namen nicht mehr weiß. Und es überspiele. Bis ich allein bin. Und weinen kann. Lange weinen. Bis ich vergessen habe, warum ich weine.

 

Welche Namen werde ich zuerst vergessen? Wo wird sich der klebrige Schleier niederlassen? Neblige Namensniederungen, systemloses Gedankenlabyrinth. Erschöpft durch tägliche Spurensuche. Die eigenen Lebensspuren. So oft abgetastet, dass sie immer mehr verwischen, verschwinden. Ausgelöscht. Welche Geschichten werde ich erzählen? Geschichten. Geschichten. Immer die selben Geschichten. Einzige Erinnerung. Einziger Halt in der Vergangenheit. Einziger Beweis, dass Vergangenheit gewesen ist.

 

Ich bin ihr so ähnlich. Als junges Mädchen hatte sie so viel Ähnlichkeit mit mir. Nur schon viel mehr durchgemacht. Mit Anfang 20 das erste Kind. Unehelich. Direkt nach dem Krieg. Getretene Träume, tränenreich-triefend, Schützengraben-Fundament. Niemand weiß es. Auch sie nicht mehr. Kein Sinn mehr, das Rätsel lösen zu wollen. Mit jeder Frage verschwinden 100 Antworten. Wenn ich in ihre Augen sehe, sehe ich meine. Nur viel weiser. Und wirrer. Auf der Suche nach Anhaltspunkten, nach Stichworten. Nervös flatterndes Blau flüchtet sich in hilfloses Lächeln. Mundwinkel von Natur aus hängend. Wie bei mir. Bin ihr so ähnlich. 

 

»Ich mache Bratkartoffeln.« »Das sehe ich, aber warum?« »Wenn Dieter gleich von der Schule kommt ...« Bunter Kittel flattert durch Gardinen-durchdringenden Bratendunst. Geschäftiges Treiben, schnell, von einer Ecke in die nächste Ecke, die vielleicht den wirren Blick zu verbergen vermag. Koch-Wahn. Brat-Wahn. Immer zu tun. Immer so viel zu tun. Fragen fruchten in Nervosität.

»Es ist 3 Uhr nachts, Oma. Du musst kein Mittagessen machen.« Braten. Flucht in den Alltag. Alltag ist Bratkartoffeln. »Es wird aber auch heute überhaupt nicht hell.« »Dann geh doch schlafen, Oma. Es ist mitten in der Nacht.« Blick auf die Uhr. Durch die Uhr hindurch. Nichts damit anfangen können. Braten. Zuhause sein. Heimat ist Bratkartoffeln.

 

»Ich hab für euch noch gar nichts zu Weihnachten. Ich wollte euch ja Geld schenken, dann könnt ihr euch selbst was kaufen. Aber irgendwer hat das Geld einfach hier weg genommen.« »Das hast du uns doch schon gegeben. Heute ist Silvester.« »Ja, ja ...« Bescheid wissen. Klar kommen. Ich weiß das doch. Alle wissen bescheid. Die Welt strotzt vor Wissen. 80 Jahre bescheid gewusst. Erfahrungen gemacht. Kriege überlebt. Kinder groß gezogen. Haus gebaut. Bescheid gewusst. Immer bescheid gewusst. Immer und immer noch. »Ja, was soll ich euch sonst auch schenken? Für Puppen seid ihr zu alt. Aber wo dieses Geld ist?«

 

Murmelndes Umherwandern und abtastende Blicke. Die Augen gleiten an Wänden herab, die gemauerte Heimat waren, gleiten über Gegenstände, an denen Erinnerungen hingen, und gleiten ab. Finden keinen Halt mehr. Rutschen unruhig durch rätselhafte Räume. Vertrautes wird fremd und Fremdes wird Angst und Angst wird vertraut. Verschwörerischer Flüsterton fliegt durch leere Zimmer, fliegt gegen leere Wände, die nicht antworten.

 

Erklärungen suchen. Nicht dumm da stehen. »Das hab ich heute vor der Haustür gefunden. Da sind ein paar Frauen durch unsere Straße gegangen, die haben das hier vor die Tür gelegt.« Gegenstände, Jahrzehnte am selben Platz, sind plötzlich fremd. Müssen irgendwo herkommen. Muss ich gefunden haben. Suche nach Logik. Die Logik liegt vor der Haustür.

 

»Ich hab wieder überhaupt kein Brot mehr im Haus. Irgendwer hat sich mein ganzes Brot geholt.« Bittere Aggressionen entsteigen dem Vergessen. Schuldige suchen, die Antworten geben. Antworten suchen, die geschuldet werden. So vieles, was nie da war, ist auf einmal weg. So vieles, was immer da war, ist auf einmal da. So vieles, was nicht ins Bett gehört, ist im Bett. So vieles, was nicht in den Wäscheschrank gehört, ist im Wäscheschrank. Brot kann überall sein. Die Wäsche ist im Brotschrank.

 

Welt, die keine Klarheit mehr hergibt. Unklarheit, die in der Welt keinen Platz findet. Was macht den Mensch zum Mensch? Seine Gefühle, nach denen er handelt? Die Erinnerungen, die ihn weise machen? Die Sprache, mit der er all das mitteilen kann? Was aber, wenn die Leitungen unterbrochen sind? Wenn Zurückliegendes nicht mehr greifbar ist und jede Frage eine Sekunde Schmerz ist, im Ringen nach Antworten. Wenn jede Frage ins Bewusstsein ruft, dass die Antworten verschwunden sind. Wenn Namen verschwinden, erst nur zwischendurch, dann öfter. Bis sie für immer gehen. Bis auch der Mensch mit ihnen verschwindet. Und auch der Mensch im Spiegel verschwindet. Irgendwann.

 

 

erschienen in verschiedenen Fachzeitschriften